Inklusion – früher ein Fremdwort und heute?

Als ich jung war, hat noch niemand von „Inklusion“ gesprochen. Gemeint ist, dass möglichst alle in eine Gemeinschaft einbezogen werden.

Ich erinnere mich noch gut an die Erzählung meiner Mutter. Sie war in den 60er Jahren erleichtert, kein Contergan-Kind bekommen zu haben. Oft erzählte sie von der weinenden Mutter im Nachbarbett, die zur gleichen Zeit entbunden hatte. Deren Kind war ohne Arme zur Welt gekommen. Was aus diesem Kind geworden ist, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nicht mal an seinen Namen. Mein Vater erinnert sich heute noch daran, wie viel Mitleid sie damals mit dieser Mutter hatten.

Natürlich gab es in meiner Geburtsstadt Kinder mit Behinderung, ich kannte aber niemanden. Sie tauchten nirgendwo in meiner Welt auf. In meinem Kindergarten, in meiner Schule gab es keine Kinder mit besonderem Förderbedarf, sie gingen wohl auf andere Schulen. Auch Rollstuhlkinder habe ich nie gesehen, weder im Bus noch auf dem Weg zur Schule. Die Frage, warum das so ist, habe ich mir nie gestellt.

In einer Nebenstraße lebte ein Junge mit spastischen Lähmungen, der oft mit einem Dreirad vor seinem Elternhaus hin und her fuhr. Ich glaube, er wurde jeden Morgen von einem Fahrdienst abgeholt und zur Schule gefahren. Wo seine Schule war? – keine Ahnung. Auf die Idee, ihn zu fragen, wäre ich nie gekommen. Ich erinnere mich noch an die mitleidigen Worte meiner Mutter: „Die armen Eltern tun mir so leid, so ein Kind zu haben“ Ich habe nie gesehen, dass sie sich mal mit ihnen unterhalten hätte. Obwohl es doch fast Nachbarn waren. Auch meine Tanten und Onkel, die in unserer Straße wohnen, waren nicht anders.

Auch während meines Studiums hatte ich nie direkt mit Menschen mit Behinderung zu tun. Dunkel erinnere ich mich noch an einen Rollstuhlfahrer an der Uni Hamburg. Er ist mir öfters begegnet, in der Bibliothek oder im WiWi-Bunker, geredet habe ich nie mit ihm. Auch während meiner Studienzeit an der TU Hamburg-Harburg gab es keine Rollstuhlfahrer in meinem Semester. Nachdem ich die Prüfungen schon einige Jahre hinter mir hatte, begegnete mir eine Kommilitonin in den Räumen der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG Hamburg). Wir guckten uns an und riefen fast wie aus einem Munde „Mist, du auch!“

Inzwischen ist einiges anders. Leute mit unterschiedlichen Behinderungen gehören zu meinem Leben. Ich bin eine davon und spüre jeden Tag, wie es ist „anders“ zu sein und nicht zu den Gesunden zu gehören. Nach meiner Ausbildung habe ich in meinem gelernten Beruf mit der Diagnose MS und sichtbaren Einschränkungen keine Arbeitsstelle gefunden. Durch eine Förderung des Arbeitsamtes bekam ich die Gelegenheit, knapp 2 Jahre für einen Verein von unterschiedlich behinderten und unbehinderten Menschen zu arbeiten. Der Verein setzt sich dafür ein, dass alle behinderten Menschen selbstbestimmt leben können. Danach kamen noch 3 Jahre in einem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderten Projekt. Es ging darum, Informationen zu sammeln und Menschen mit Behinderung mit qualifizierten Informationen rund um das Thema Auto fahren zu unterstützen.

Auch rechtlich gab es Veränderungen. 2006 hat die UNO-Generalversammlung in New York die Behindertenrechtskonvention (BRK) verabschiedet, 2008 ist sie in Kraft getreten. Die BRK ist ein Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Ziel ist, behinderten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe bzw. Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Menschen mit Behinderungen sollen nicht mehr – wie früher – gesondert behandelt werden, sie gehören zur Gesellschaft wie blauäugige, braunhaarige oder Brillenträger. Leider haben das noch nicht alle bemerkt.

Es ist schwierig, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Immer wieder versperren Barrieren den Weg und verhindern die Teilhabe von allen. Z. Bspl. ist die Suche nach Zielen, die für für mich erreichbar und interessant sind, unglaublich mühsam und endet oft darin, dass ich gar nicht versuche, sie zu finden.

Es reicht nicht, eine Konvention zu unterzeichnen. Notwendig ist auch der Wille, sie umzusetzen, Barrieren abzubauen. Wie viele andere Kinder meiner Zeit bin ich in einer Welt ohne Kontakte zu Menschen mit Behinderungen aufgewachsen. Das bedauere ich sehr. Heute bin ich durch eigene Betroffenheit sensibilisiert und fordere, so wie ich bin akzeptiert zu werden und am Leben teilhaben zu können. Ich wünsche mir, dass Barrieren aus dem Weg geräumt und nicht neu geschaffen werden. Ein Leben ohne Inklusion soll unvorstellbar sein.

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