von Artur Hermanni (artur-hermanni.jimdo.com)
Neulich sah ich eine Rollifahrerin, oder sollte ich sagen: ich traf sie? Sie hatte jedenfalls den gleichen Weg, obwohl ich mir nach dieser Begegnung mit ihr auch darüber nicht mehr so sicher war!
Den Weg vom Holstenplatz bis zum Eingang des Bahnhofes legte ich wie immer leichtfüßig und in meine Gedanken versunken zurück. Kurz vorm Eingang war dann der Moment, wo ich sie an jenem Tag zum ersten Mal sah. Bis zu dem Moment wo wir uns, bis auf Höhe des Fahrstuhls, ein paar Meter nebeneinander fortbewegten, war der Weg für sie wohl machbar gewesen, also für sie normal, das nehme ich jedenfalls an.
Der Gestank vom Fahrstuhl kam mir schon entgegen, noch bevor ich sie im Vorübergehen kurz anschaute. Die Rollifahrerin bremste und beugte sich vor, um den Fahrstuhlknopf zu betätigen. Das war es, was ich in dem Moment sah, und dass sie zurückblieb auf diesem verdreckten, schmierigen Boden und in dieser Duftwolke, einer besonders ekligen Mischung aus Urin und ranzigem Fett. Dieser Geruch steckte wie ein gasförmiger Pfropfen auch im tunnelartigen Eingang der S-Bahnstation. Da musste jeder Fahrgast durch, wenn er von den Gleisen kam oder zu ihnen eilte, ob er wollte oder nicht.
Wir wollten beide in die S 21 Richtung Bergedorf. Sie nahm den Lift, ich die lange, dunkle und steile Treppe. Ich kam vor ihr oben auf dem Bahnsteig an. Von dort hat man eine mäßig schöne Aussicht, zwei Stockwerke über Straßenterrain. Diese versuchte ich zu genießen, während die unbekannte Rollifahrerin gerade aus dem Panoramalift auf den Bahnsteig fuhr.
Wir hatten beide den letzten Zug verpasst. Sie hatte die Vibrationen der abfahrenden Bahn im Fahrstuhl, ich auf der Treppe gespürt. Nun hatten wir zehn Minuten Zeit, bis die nächste Bahn abfuhr. Ich schlenderte, die Rollifahrerin überholte mich. Offensichtlich waren wir beide auf dem Weg nach ganz vorne, wo der erste Wagon zum Stehen kommen würde, dort wo der Zugführer in seiner Führerkabine saß. Ich stieg immer dort ein, weil ich schon an der nächsten Station Sternschanze in die U3 umsteigen wollte. Vom Zuganfang der S-Bahn ist das der kürzeste Weg in Richtung U-Bahn-Schacht. Ein Weg über vier Treppen, eine davon lang und steil, Fahrstuhl Fehlanzeige. Die unbekannte Rollifahrerin wollte in den ersten Eingang des ersten Wagons, weil es dort eine Rampe gibt, das war mir klar.
Kennen Sie diese Kästen in den ersten Wagons, da, wo im Triebwagen der Zugführer seinen Dienst verrichtet? Steigen Sie in den ersten Wagon, nehmen Sie die erste Tür, und schauen Sie nach links. Gleich unterm Fenster, da prangt er. Etwa sechzig Zentimeter breit, einen Meter hoch und etwa fünfzehn Zentimeter tief ragt dieser in gedecktem blau gehaltene Rampensafe bis über Fensterbrüstung hinaus und nimmt einem im Sitzen die Sicht.
Ich habe das schon öfter beobachtet. Wie ich mich dabei fühlen würde, das versuche ich mir immer dann vorzustellen. Und spätestens dann denke ich immer, es würde wohl gehen, aber, aber, aber…
Immer vorausgesetzt, der Zugführer sieht mich auf dem schlecht beleuchteten Bahnsteig. Der Bahnhof Holstenstraße ist nämlich immer düster. Überdacht und von Bäumen und Häusern dicht umstanden, ist die Belichtung auf dem Bahnsteig eher mau, besonders, wenn die Züge einfahren und alles mit ihrem Schatten überziehen. Und immer vorausgesetzt, der Zugführer reagiert auf mein Winken, und immer vorausgesetzt, er kommt aus seinem Führerhaus, und immer vorausgesetzt, er wuchtet die sorgfältig verschlossene Rampe aus dem solide gefertigten Schrank heraus und legt sie für mich und meinen Rollstuhl zwischen Bahnsteig und Wagoneingang. All diese Dinge immer vorausgesetzt, könnte ich dann einfahren und meine S-Bahnfahrt beginnen.
An jenem Tag wurden bei der Rollifahrerin alle diese Voraussetzungen erfüllt. Und natürlich geschah das alles innerhalb von nur einer Minute. Das Grüßen oder Einander-Ansehen der Beiden ging im Schweinsgalopp dieses Verlademanövers völlig unter.
In den Bussen gibt es die Klapprampen. Diese kann jedermann mit den bloßen Fingern ergreifen und ausklappen, wenn man oder jedermann dies konnte und wollte. Die Möglichkeit, derart initiativ zu werden, nutzen nur wenige, aber es ist wenigstens möglich. Für das Einrollen in die S-Bahn der Linie 21 jedoch ist die Nutzung dieser kuriosen, immer gut verschlossenen Rampen notwendig. Für die Hilfe bei der Nutzung ist der Zugführer zuständig, er hat den Schlüssel, er schließt auf und wieder zu.
In der S-Bahn, das wurde mir an jenem Tag klar, ist nicht mal Initiative möglich, nicht mal Initiative.
Ein Gedanke zu „Nicht mal Initiative!“