Der Unterschied

– zwischen unserer Krankheit und gebrochenen Beinen, gerissenen Kreuzbändern oder demolierten Patella-Sehnen

2012 / 2013 waren die Jahre der Verletzungen. Jans Patellasehne riss als er eine Treppe herunterging, Sabine und Antje brachen sich das Wadenbein, Peter humpelte mit einem Gipsbein durch die Gegend, bei Britta riss das Kreuzband und der Meniskus ging kaputt. Ach ja, ich vergaß Christians Sportunfälle und Anjas kaputten Fuß. Lauter blöde, schmerzhafte und unnötige Verletzungen.

Fast alle liefen 6-8 Wochen mit Gehhilfen herum. Sie spürten, wie kompliziert es ist, die Treppen zur Wohnung im 4. Stock ohne Fahrstuhl rauf und runter zu krabbeln oder dass die wenigen Stufen ins Haus rein ganz schön anstrengend sein können. Sie mussten ihre ursprünglichen Pläne über den Haufen schmeißen, konnten z. B. bei einer Theaterproduktion nicht mitmachen oder mussten Verabredungen absagen. Für einige bot sich auch eine willkommene Pause vom Alltag. Sie hatten immer eine gute Entschuldigung, wenn sie zu irgendwas nicht wirklich Lust hatten. Andere kamen in den „jetzt-erst-recht“ Modus und entwickelten starke Armmuskeln, um mit Gehhilfen Hindernisse zu überwinden. Inzwischen sind fast alle Verletzungen verheilt, Stufen sind nicht mehr unüberwindbar. Mit viel Energie und Physiotherapie haben sie Schwierigkeiten überwunden. Die Lust, überall teilnehmen zu wollen und können, scheint grenzenlos.

Anders ist es bei Antje und mir. Antjes Wadenbein ist zwar wieder in Ordnung und ich hatte keine Verletzung durch einen Unfall. Bei uns kommt aber eine chronische Krankheit dazu, die uns dauerhaft etwas nimmt, was wir früher gut konnten: das Laufen. Wie die Verletzten brauchen wir Hilfsmittel wie einen Rollator oder Rollstuhl. Der einzige Unterschied: wir brauchen sie wahrscheinlich bis zu unserem Lebensende. Wir trainieren viel, um das zu erhalten, was heute noch geht. Aber die Hoffnung, wieder springen und hüpfen zu können, haben wir nicht. Wir stellen uns und anderen die Frage, ob wir dort, wo wir hin möchten auch hinkommen. Wir nerven immer wieder mit der Frage nach Barrierefreiheit und werden dies auch zukünftig tun.

Der Grund ist ganz einfach: auch unsere Lust teilnehmen zu können und wollen ist nahezu grenzenlos.

(c) Birgit Brink, Oktober 2013

 

Ein Gedanke zu „Der Unterschied“

  1. Als ich dies las, war ich erleichtert, dass es noch andere Menschen gibt, die genau diese Gedanken haben.

    Als Kind bekommt man oft zu hören: “Sei nicht mehr traurig, das geht wieder vorbei!” Als Erwachsener hält man sich immer noch daran fest, um sich zu trösten, wenn eine Verletzung einen für Wochen aus der gewohnten Routine wirft. Man trainiert, wie hier im Blog beschrieben ist, kompensiert für einen Moment das Unvermeidliche, immer mit dem Wissen und der Perspektive im Hinterkopf: “Das braucht etwas Zeit, aber das wird schon wieder”, was auch meistens stimmt.

    So ist es uns antrainiert worden, um durchzuhalten. Jeder Mensch geht davon aus, dass die Perspektive der Besserung da ist. Nichts Negatives ist dauerhaft, weshalb der “Erkrankte” sich auf seine Weise an die bestehende Umwelt anpasst und nicht umgekehrt.

    Dies funktioniert bei einer chronischen Erkrankung eben nicht so, was die meisten Leute nicht begreifen können. Der Unterschied besteht darin, dass es für Chroniker eben nicht diese Perspektive der Heilung gibt und sie folglich an den Barrieren der ach so selbstverständlichen Umwelt scheitern.

    Ich frage mich oft, wie man diesen Unterschied in die Köpfe der Menschen bekommt. Ganz offensichtlich passen bei manchen die Lust am Leben und eine Krankheit nicht zusammen…

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