Tagesmutter im Rollstuhl

Es ist sechzehn Uhr. Die 5-jährige Lotta und der 4-jährige Oskar stürmen aus der Kindertagesstätte Löwenzahn in Düsseldorf, gefolgt von der Erzieherin Heidrun Mertens. Heute werden sie von ihrer Tagesmutter Karin Wolters abgeholt. Zwischen Kindergarten und Feierabend der Eltern übernimmt sie die Anschlussbetreuung und kümmert sich um die Beiden.

Oskar ist ein wenig müde und mag nicht selber zur nahegelegenen Wohnung laufen, er klettert gleich auf den Schoß der 49-jährigen, die im Rollstuhl sitzt. Die Kinder freuen sich auf ihre Betreuerin, in ihrer Wohnung „können wir toll spielen“.

Karin Wolters ist Frührentnerin, mit den 400 €, die sie als Tagesmutter verdient, bessert sie ihre Rente auf. Asthma, eine Stoffwechselkrankheit in den Gelenken und rheumatische Beschwerden zwangen sie vor 8 Jahren, ihren Beruf als Kinderkrankenschwester aufzugeben und Erwerbsminderungsrente zu beantragen. Ein 8-Stunden Tag und Wechselschichten überstiegen ihre Kräfte. Die Rente wurde sofort genehmigt, schweren Herzens verließ sie die Kinderklinik.

Heute bekommt sie 900 € Rente im Monat. Das sind zwar 200 € mehr als die 1,5 Mio. Erwerbsminderungsrentner in der Bundesrepublik durchschnittlich erhalten, zum Leben reicht es aber nicht.

Die Rollstuhlfahrerin bewohnt eine kleine, rollstuhlgerechte 2-Zimmer-Wohnung und zahlt 500 € Miete pro Monat. Mit den übrigen 400 € kommt sie nicht für alles andere aus. Um ihre Rente aufzubessern darf sie bis zu 3 Stunden pro Tag arbeiten und maximal 400 € hinzuverdienen.

Nach den Regelungen des Sozialgesetzbuches XII könnte sie Grundsicherung beantragen und damit ihren „grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt abdecken“. Das will die quirlige Frau nicht, das Sozialamt würde dann bestimmen, wie groß ihre Wohnung sein darf. In ihrem Leben spielt Selbstbestimmung und Eigenständigkeit eine wichtige Rolle, ganz oben steht der Wunsch, eine verantwortungsvolle Aufgabe zu haben.

Karin Wolters erfüllt alle Anforderungen, um als Tagesmutter arbeiten zu dürfen. Sie ist persönlich und pädagogisch qualifiziert, hat einen Erste-Hilfe-Kurs am Kind absolviert und die Räume, in denen die Kinder betreut werden, sind geeignet. Die Eltern von Lotta und Oskar sind berufstätig oder in der Ausbildung. Das örtliche Jugendamt organisiert und finanziert die Tagesbetreuung, die Eltern müssen sich an den Kosten beteiligen.

Karin Wolters darf bis zu 3 Kinder betreuen. Sie leben meistens im gleichen Stadtteil, das erspart unnötige Wege. Zum Glück hat ihre Sachbearbeiterin im Jugendamt kein Problem damit, dass sie sich im Rollstuhl fortbewegt. Sie schätzt die äußerst zuverlässige Tagesmutter und vermittelt ihr gerne Kinder. Mit den Eltern hat diese sich immer gut verstanden, für kein Kind war der Rollstuhl ein Problem.

Zukünftig wird sich ihre finanzielle Situation kaum ändern. Die Rentenhöhe ist festgelegt, es ist gesetzlich geregelt, dass ein Erwerbsminderungsrentner maximal 400 € dazu verdienen darf, eine Altersvorsorge ist unmöglich. Lässt ihre Gesundheit eine geringfügige Beschäftigung nicht mehr zu, muss sie auf Grundsicherung zurückgreifen. Eventuell ist die Wohnung wenige Quadratmeter zu groß und sie muss eine kleinere suchen. Beim derzeitigen Angebot an rollstuhlgerechten Wohnungen ein Ding der Unmöglichkeit.

Für die Kinder ist die Tagesmutter im Rollstuhl eine Bereicherung. Sie lernen, dass Rollstuhlfahrer zum Leben gehören wie braune Haare oder blaue Augen. Karin Wolters kann ihre Erfahrungen im Umgang mit Kindern nutzen und gleichzeitig ihre Belastungsgrenzen berücksichtigen.

Birgit Brink, April 2012

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